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Schach: Fit statt matt - Ein Blogthema bei UNIQA

Ist Schach Sport, Spiel, Kunst, eine Allegorie aufs Leben oder eine Wissenschaft? Das weiß niemand so ganz genau. Auf jeden Fall ist es eine Möglichkeit, seiner Gesundheit Gutes zu tun.

Seit die Netflix-Serie „The Queen‘s Gambit“ zeigt, wie eine faszinierende junge Frau ihrem Gehirn Höchstleistungen abverlangt und ihre Gegner schwindlig spielt, erreichen die Suchanfragen bei Google zum Thema „Schach“ astronomische Höhen und die uralte Sportart – freilich auch durch die Lockdowns – eine weltweite Renaissance.

Eindrucksvoll dokumentieren die Folgen, dass Turnierspieler bei ihren stundenlangen Schachpartien Leistungen erbringen wie Spitzensportler. Nicht zuletzt verbraucht ein Spieler bei einem Weltmeisterschafts-Turnier sogar ähnliche Kalorienmengen wie Radprofis bei einem Rennen. Und so wie bei allen Sportarten, die im Spitzenbereich ausgetragen werden, kann die Frage, ob Schach unter diesen extremen Umständen noch gesund ist, nicht eindeutig beantwortet werden. Doch kehren wir aus dem Olymp des Spitzensports zurück in die Niederungen des Breitensports, wo Schach schon im Kindesalter mit gesundheitsfördernden Wirkungen punkten kann.

Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten

Großes Aufsehen erregte in dem Zusammenhang eine Untersuchung, die Anfang der 2000er Jahre in Trier durchgeführt wurde. Darin wurden Volksschüler verglichen, von denen eine Gruppe Schach als Unterrichtsfach hatte. Es zeigte sich, dass vor allem leistungsschwache Kinder in der „Schachgruppe“ schon nach kurzer Zeit bessere Leistungen in Deutsch, Lese- und Sprachverständnis sowie Mathematik aufwiesen. Zusätzlich besaßen sie eine deutlich höhere Konzentrationsfähigkeit und Sozialkompetenz.

Seither wurden diese Studien weltweit bestätigt und besonders im Zusammenhang mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) gibt es ermunternde Erkenntnisse. Bereits wenige Stunden regelmäßiges Schachtraining bewirken, dass Kinder ruhiger werden, sich besser konzentrieren können und in Folge bessere schulische Leistungen erbringen.

Solche Erfahrungen kennt der Leobener Schachpädagoge Karl-Heinz Schein aus seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Jugendtrainer und bestätigt: „Bei meiner Arbeit mit Jugendlichen sehe ich, wie sich ihre kognitiven Fähigkeiten verbessern. Schach schult die Merkfähigkeit, denn ein Schachspieler muss viele komplexe Spielsituationen analysieren und sich merken, was eine enorme Gedächtnisleistung darstellt. Es verbessert das visuelle und räumliche Vorstellungsvermögen, weil ein Schachspieler in die Zukunft schauen und sich vorstellen muss, wie die Spielsituation nach den nächsten Zügen aussehen könnte.“

Lernen fürs Leben

So wie es stets heißt, dass der Mensch nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernt, kann auch das Spiel mit den schwarzen und weißen Figuren eine Vorbereitung auf Herausforderungen des Alltags sein.

„Ein Modewort unserer Zeit ist Resilienz. Auch diese Form von Widerstandskraft wird beim Schach geschult. In vielen Situationen muss ein Spieler aushalten, dass er nicht gleich zum Ziel kommt, sondern er muss abwarten können, Verteidigungsstärke zeigen und einen kühlen Kopf bewahren. Weiters gibt es Situationen, in denen er sich von seinem Gefühl leiten lassen muss und dann wiederum andere, in denen er rational handeln muss. Die Kunst ist, zu unterscheiden, was wann eingesetzt wird. Eine Fähigkeit, die ebenfalls im beruflichen wie privaten Leben enorm wichtig ist“, erklärt Karl-Heinz Schein.

Steigerung der sozialen Kompetenzen

Wie wichtig soziale Interaktionen sind, um gesund zu bleiben, hat sich in den Lockdowns während der Corona-Pandemie gezeigt. Auch unter diesem Aspekt besitzt Schach wichtige Eigenschaften, die dem Laien im ersten Moment vielleicht nicht bewusst sind. Karl-Heinz Schein: „Schach braucht ein Gegenüber. Wer gegen einen anderen Menschen spielt, ist nicht einsam. Die Kommunikation erfolgt vielleicht nicht verbal, aber über die Spielzüge. Auch ist Schach ein integratives Medium. Vollkommen unterschiedliche Menschen können gegeneinander Schach spielen, aus verschiedenen Generationen, Nationen oder Männer gegen Frauen. Es ist eine Mischung aus Einzelsport und Gemeinschaft, und so eine Gemeinschaft findet man automatisch in jedem Schachklub.“

Und nicht zuletzt benötigt ein Schachanfänger jemanden, der ihn unterweist, was zugleich bedeutet, dass der andere ihm dadurch Zeit, Zuwendung und Nähe schenkt. Wiederum Faktoren, welche positiv auf die gesunde Entwicklung eines Kindes wirken bzw. wichtig in jedem Lebensalter sind.

Besser altern mit Schach

Apropos altern und Alter. Dass ein Sport, Spiel, Zeitvertreib – wie immer man Schach betrachtet – der das Gehirn in hohem Maße fordert, der Alterung des Denkorgans vorbeugt, ist logisch und Studienergebnisse zu Schach und Demenz untermauern diese These.

Eine Forschungsreihe mit 55- bis 87-jährigen zeigte 2008 in Valencia, dass sich bei 1,5 Stunden Schach pro Woche die kognitiven Fähigkeiten, um 65 Prozent verbesserten – und das, obwohl fast alle 120 Studienteilnehmer Anfänger waren!

Ein englisches Sprichwort lautet „Use it or lose it”, was auch auf die geistigen Fähigkeiten zutrifft. Denn wird der Denkmuskel zu wenig gefordert, büßt er an Leistungsfähigkeit ein.

Es gibt also zahlreiche Gründe abgesehen vom sexy Rolemodel in „The Queen’s Gambit“, schon vor dem 70. Geburtstag mit dem Schachspielen zu beginnen.

 

Zur Person:
Mag. Karl-Heinz Schein hat die Schachtrainerausbildung in Österreich aufgebaut und coachte das Österreichische Frauennationalteam bei den Schacholympiaden 2006 und 2008. Der Schachpädagoge unterrichtet am Alten Gymnasium in Leoben und leitet dort auch Schulschachkurse. Dazu ist er Obmann des Schachklubs Leoben.

Karl-Heinz Schein mit Eva Moser bei der Schach-Olympiade 2010

 

Autorin:
Felicitas Freise
https://www.freise.at

 

Quelle:
UNIQA - Gesundheitsblog
Der Artikel bei UNIQA

 

Frohes Neues Jahr 2021

Der Österreichische Schachbund dankt allen Spielern, Trainern, Schiedsrichtern, Funktionären und Fördergebern für ihren Einsatz und ihre Unterstützung im vergangenen Jahr. Es war für uns alle eine große Herausforderung mit den Folgen der Pandemie umzugehen. Gerne hätten wir das 100-jährige Jubiläum des ÖSB anders gefeiert. Immerhin konnten wir alle Staatsmeisterschaften der Allgemeinen Klasse und der Frauen austragen, erste Meisterschaften im Online-Schach organisieren und den Trainingsbetrieb mit vielen Online-Angeboten einigermaßen aufrecht halten. Im Sommer waren zudem Open in St. Veit und Innsbruck möglich. Zum Jubiläum konnten wir das 100-Jahre Magazin auflegen und eine Jubiläums-Uhr präsentieren. Das geplante Highlight, der Vereins-Europacup in Mayrhofen, musste leider wie alle anderen internationalen Meisterschaften ausfallen. Der ÖSB hat von der ECU eine Option den Europacup 2022 austragen zu können.

Wir hoffen, dass 2021 im Laufe das Jahres auch bei Turnieren vor Ort wieder "Normalität" einkehrt und wir viele nationale und internationale Veranstaltungen erleben werden. In diesem Sinne wünschen wir allen Schachfreunden noch etwas Geduld und ein

 

FROHES NEUES JAHR 2021 

Jahrhundertspieler Markus Ragger zeigt eine Lieblingspartie

Markus Ragger, Österreichs frisch gekürter Spieler des Jahrhunderts, hat sich durch sein persönliches Partien-Archiv gewühlt. Herausgekommen ist die Analyse seines Sieges gegen Sebastian Maze 2016 für das 100 Jahr Magazin des ÖSB: "Eine qualitativ hochwertige Partie - sie repräsentiert meinen Stil, war eröffnungstheoretisch und auch sportlich für das Nationalteam wichtig. Sie erfüllt viele Kriterien, die mir wichtig sind: Deshalb ist es eine meiner Lieblingspartien!", meint Ragger.

Königsindisch, eine Odyssee und ein Scheinopfer
Analyse: Markus Ragger

 

(Ein Beitrag aus dem Magazin 100 Jahre ÖSB)

WK, Text: Hannes Neumayer, Foto: Laima Domarkaite

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Rückblick auf das ÖSB-Jubiläumsjahr - Kurt Jungwirth im Interview

Die nunmehr 100-jährige Geschichte des ÖSB lässt sich gut in drei Perioden einteilen: vor, während und nach dem 2. Weltkrieg. 46 Jahre davon hat Kurt Jungwirth von 1971 bis 2017 den ÖSB als Präsident geführt, lässt man die acht Jahre der Kriegszeit aus, dann hat der Fan des SK Sturm eine ganze Halbzeit der 100 Jahre regiert.

WK: Lieber Kurt, wie geht es dir und wie hast du das Jubiläumsjahr des ÖSB persönlich erlebt.

KJ: Ein Virus hat das 100-Jahr Jubiläum leider stark gestört. In Graz hatten wir das Glück, das traditionelle, große Internationale Turnier im Februar gut über die Bühne zu bringen. Ein paar Wochen später hätten wir einen Scherbenhaufen erlebt. Es hat internationale Versuche gegeben, Corona online zu überspielen. Erfreulich war, dass es uns gelang, die Österreichischen Jugendmeisterschaften auf diese Weise zu retten. Eine organisatorische und technische Meisterleistung.

WK: Du bist 2017 als Präsident des ÖSB zurückgetreten. Wie ist seither deine Verbindung mit Schach geblieben?

KJ: Ich verfolge ungebrochen das Schachgeschehen in Österreich und international. Es ist erfreulich, dass mein Nachfolger, Christian Hursky, sehr ambitioniert tätig ist. Trotz mancher Diskussion muss Zusammenhalt oberstes Prinzip im ÖSB bleiben.

WK: Anfang Dezember ist im Beyer-Verlag von dir, Ehn und Ragger ein Buch über Eva Moser erschienen, das du initiiert hast. Warum war es dir ein so großes Anliegen dieses Buch herauszubringen?

KJ: Von allen Österreicherinnen, die seit 1920 auf die Welt gekommen sind und Schach spielten und spielen, ist Eva Moser die Größte. Mit ihrem fulminanten Aufstieg kam sie, wie ganz wenige Frauen auf der Welt, dem Titel eines (männlichen) Großmeisters ganz nahe. Ihrem schöpferischen Werk musste ein Denkmal gesetzt werden. In dem Buch hat Markus Ragger ihren wertvollen Nachlass analysiert. Michael Ehn hat einen umfassenden Artikel über Frauenschach in Österreich verfasst.

WK: Zurück zu den Anfängen und zu positiven Erlebnissen. Wie war es möglich 46 Jahre an der Spitze eines Verbandes zu bleiben, insbesondere wenn man bedenkt, dass du diese Funktion nicht aktiv angestrebt hast?

KJ: Eigentlich wollte ich ursprünglich ein starker Spieler werden, dann holten mich aber Funktionen ein. Dass ich in der Landesregierung der Steiermark landete, hatte ich nie geplant. Auch nicht, dass 1970 eine Delegation aus Wien mich bat, die Führung des ÖSB zu übernehmen. In Wien gab es sehr gute Spieler und starke Vereine, aber die Funktionäre, die dort den ÖSB leiteten, waren uneinig. So wurde ich im September 1971 einstimmig in der Versammlung aller Bundesländer gewählt. Die lange Dauer in einer Präsidentschaft musste mehrere Gründe haben. Sicherlich einen leidenschaftlichen Bezug zum Schach. Ich hatte das Glück, hervorragende Mitstreiter zu finden und muss an der Spitze für viele Karl und Gertrude Wagner zitieren, die für Schach sozusagen Tag und Nacht brannten. Im Laufe der Jahre bin ich ganzen Generationen von Spielern und Organisatoren begegnet, mit deren Einsatz sich der ÖSB weiterentwickelte.

WK: Zu deinem Abschied im ÖSB haben Eva Moser, Michael Ehn und das Team von Schach Aktiv in einer Sonderausgabe dein Schaffen für das österreichische und internationale Schach aufgearbeitet. Wenn du dir dieses Heft durchblätterst, bist du dann selbst überrascht wie viel da gelungen und innovativ aufgebaut worden ist? Ich denke beispielsweise an die Jugendmeisterschaften, die mit einer Altersklasse begonnen haben. 2017 waren es dann jährlich 37 Bewerbe (Buben, Mädchen, U8 bis U18, Standard, Rapid, Blitz). Oder an die Gründung der ECU, des Mitropacups, die vielen internationale Veranstaltungen…

KJ: Ich erinnere mich an weitere nachhaltig Etappen. Es gelang 1976 Schach in den Lehrplänen österreichischer Schulen als Freigegenstand oder Unverbindliche Übung durchzubringen. Daraus entstanden die Bundes-Schülerligen. Die Staatsliga wurde bereits 1975 als Vorgängerin der Bundesligen gegründet. International wurde 1976 der Mitropacup neu erfunden. 1981 übernahm der ÖSB die Herausgabe von Schach-Aktiv.

WK: Bei all dem, das gelungen ist. Welche drei Ereignisse siehst du als deine größten Erfolge?

KJ: Mich interessierte stark das internationale Schach, wobei mir Sprachkenntnisse zu vielen Verbindungen verhalfen. 1978 wurde auf dem FIDE-Kongress in Buenos Aires Fridrik Olafsson neuer Präsident. Zum ersten Mal wurde in der anwachsenden FIDE ein Sprecher für Europa gesucht. Ich wurde gewählt und kam auf diese Weise in die Spitze des Weltverbandes. Das war ein entscheidender Moment für die Zukunft.

Am 30. August 1985 wurde auf dem FIDE-Kongress in Graz die erste Kontinentale Versammlung für Europa, die ECU, die European Chess Union, gegründet. Initiator und erster Präsident war Rolf Littorin aus Schweden. Er übergab mir das anfänglich schwierige Amt ein Jahr später. Der Kalte Krieg in der Politik verzögerte die Entwicklung, aber nach der Auflösung der Sowjetunion entstand der heute mächtige Verband, dem ganz Europa, mit Ausnahme des Vatikans, angehört.

Am 1. Jänner 2005 wurde der ÖSB Mitglied der BSO und damit in Österreich als Sport anerkannt. Nach langem Ringen eröffneten sich für Schach neue Möglichkeiten, Kaderarbeit, Trainersystem, Sekretariat für neue Organisation.

WK: Gab es auch etwas, das du letztlich nicht umsetzen konntest, aber gerne getan hättest?

KJ: Verbesserte Entwicklung des Schulschachs in Österreich, im Sinne des Beschlusses des Europäischen Parlaments, der den Mitgliedsländern der EU empfahl, Schach, soweit nicht schon geschehen, in ihr Bildungssystem aufzunehmen.

WK: In einem Interview mit der Journalistin Felicitas Freise hast du 1971 gemeint: Schach braucht Fantasie! Ich habe in unserer 15-jährigen engen Zusammenarbeit im ÖSB immer deine Zielstrebigkeit und Disziplin bewundert. Braucht es im Schach mehr Disziplin oder mehr Fantasie?

KJ: In jüngsten Jahren beginnt der Zugang mit der Neugierde auf das Spiel und der Freude am Wettkampf. Talent zeigt sich früh mit Fantasie, die auf dem Brett die Zukunft sieht. So beginnt ein Übergang zu einer sportlichen Aktivität. Wenn der Spieler oder die Spielerin es ernst meint, brauchen sie Fitness im Kopf und körperlichen Ausgleich. Fantasie ohne Disziplin reicht nicht. Disziplin ohne Fantasie reicht gar nicht.

WK: Wir beide sind in Graz im Bezirk Jakomini groß geworden, unweit der "Gruabn", der Heimstätte des SK Sturm. Du bist ein Fan des SK Sturm und des Fußballs. Siehst du Ähnlichkeiten zwischen Fußball und Schach?

KJ: Schach ist Einzel-, Fußball Mannschaftssport. Beide treffen sich in der Notwendigkeit, intensiv zu trainieren, sich fit zu erhalten, mental während des ganzen Matches, der ganzen Partie, voll konzentriert zu sein. Klarer Siegeswille, Fairness.

WK: In wenigen Tagen beginnt das Jahr 2021. Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Aufgaben des ÖSB für die nächsten Jahre? Wo würdest du den österreichischen Schachsport in 10 Jahren national und international gerne sehen?

KJ: Den ÖSB in allen Kategorien breit aufstellen.
Mehr Frauen, die sich für Mädchen- und Frauenschach engagieren.
Sportliche Spitzenleistungen unterstützen, dadurch Interesse in den Medien halten und steigern, als Voraussetzung für finanzielle Förderung durch die öffentliche Hand und private Sponsoren.
Österreich sportlich und organisatorisch international gut positionieren.

WK: Danke für das Gespräch.

 

Die Ära Kurt Jungwirth, Schach Aktiv Sonderheft...

 

mit einem Porträt Jungwirths der Journalistin Felicitas Freise:

 

31.12.2020
Walter Kastner

 

 

 

Die Bretter, die die Welt bedeuten

Karpow. So hieß er. Anatoli Jewgenjewitsch Karpow. Mit ihm hat alles begonnen. Er galt als Genie und war in den 1960er Jahren bereits als Teenager auf dem Weg zum Schachgroßmeister. Im Alter von 24. Jahren eroberte er nach Siegen über Boris Spasski und Viktor Kortschnoi den WM-Titel und sollte von da an jene Bretter, die die Welt bedeuten, ein Jahrzehnt lang beherrschen. Als überragender Positionsspieler, wie die Experten nicht müde wurden, ihr Staunen zu manifestieren. Und mit solchen Einschätzungen von strategischer Großmacht war freilich auch ein Bub, der immer schon ein Faible für sportliche Superlative besaß, nachhaltig zu beeindrucken.

Ich spielte zu dieser Zeit nicht Schach. Wusste bestenfalls Bescheid über die Regeln, den Wert einzelner Figuren und die faszinierende Idee, Überlegenheit durch die Fähigkeit des Vorausdenkens zu erlangen. Aber ich wagte mich auch niemals über eine Skisprungschanze und dennoch war Toni Innauer ein Idol. Und ich war weit entfernt davon, einen Führerschein zu besitzen, saß aber voller Leidenschaft vor dem Fernseher, um Rallyestar Walter Röhrl bei dessen Husarenritten zu begleiten.

Warum also sollte ich nicht dem Schachzauber erliegen, ohne je eine Dame in Händen gehalten zu haben? Und eines Tages entdeckte ich Karpow. In der Zeitung. In der die Einzigartigkeit des russischen Schachgiganten analytisch herausgearbeitet wurde. Ich las den Artikel mit Sicherheit zwanzig Mal, so sehr zog mich die Beschreibung geistiger Höchstleistung in ihren Bann. Und irgendwann offenbarte mir mein Vater, dass Schach auch im Fernsehen übertragen würde.

Mit dem genialen Teenager Anatoli Karpow hat alles begonnen (Foto: Wikipedia)

Eine nahezu absurde Vorstellung, dass wir allen Ernstes Menschen Zug um Zug beim stundenlangen Brüten beobachten sollten – weniger Action ist kaum denkbar, mochte man meinen. Ein fundamentaler Irrtum. Die Sendung „Schach der Großmeister“ wurde zu Beginn der 80er Jahre ein Live-Spektakel, das der deutsche Großmeister Helmut Pfleger moderierte, und das ich für erheblich spannender erachtete als jeden Tatort oder Derrick. Ich sah Karpow beim Denken und Ziehen zu und ich lauschte voller Begeisterung den Worten des Auskenners, der für mich mit grafisch geschickt arrangierten Strategiemodellen und Überlegungen zu den vielen Möglichkeiten auf dem Weg zum Matt die Abenteuer im Kopf erfassbar machte.

So sehr, dass ich meinen Vater bat, er möge mich das Spiel lehren, bis ich bereit war, ihn zu fordern. Er war kein großer Schachakrobat und ich sollte auch niemals einer werden. Aber das Gefühl, auf Augenhöhe ein Duell des Geistes zu bestreiten, bereitete mir unendlich viel Freude. Zumal ich damals unter dem Zappelphilipp-Syndrom litt und erkannte, dass es lediglich die 32 magischen Figuren waren, die mir zur Ruhe, Konzentration und innerem Wohlbefinden verhalfen.

Daher gab es auch kein Vorüber an der „Schachnovelle“. Bis heute existiert kein Buch, das ich öfter gelesen habe, als jenes Werk von Stefan Zweig, das er im brasilianischen Exil schrieb, und das sich auf so ungewöhnliche Weise den psychischen Abgründen nähert. Das Schachspiel wird erst zum Retter des Verstandes, um selbigen später an die Grenzen zu führen. Und darüber hinaus, bis zur Persönlichkeitsstörung. Mit dem Gedanken, gegen sich selbst spielen und gewinnen zu wollen. Ein meisterlicher Zugang in die schwarz-weiße Seele, die bei mir vor allem einen Eindruck hinterließ: Schach ist ein Dämon, der viel mehr mit uns anzustellen vermag als der vermeintlich simple Code von A2 – C3 oder F4 x H6.

Von da an spielte ich oft und gerne. Allerdings ohne den großen Ehrgeiz mich weiterzuentwickeln. Mir genügten die Partien mit den Freunden, fernab von Elo-Zahlen und Turnierfanatismus. Ich spazierte ins Café, um mir Geografie-Tests, Englischvokabel-Prüfungen und Mathe-Schularbeiten zu ersparen, und pendelte als Müßiggänger zwischen Billardtisch und Schachbrett. Und nur gelegentlich kam es vor, dass ich – von Übermut angestachelt – passionierte Schachspieler um eine Auseinandersetzung bat. Die ich selbstverständlich mit Ansage verlor. Es handelte sich um Untergänge, und zwar ohne wehende Fahnen. Denn mit selbst verordnetem Kampfgeist war am Brett nichts zu kompensieren.

Genau deshalb verlor ich gerne. Ja, ich genoss die Überlegenheit meiner Gegner, weil sie meine Naivität schonungslos offenlegten und mir ansatzweise die Dimensionen des Schach-Universums demonstrierten. Wie gut muss erst ein Karpow sein, dachte ich mir, während mich der Lokalkaiser, der sich als Nemecek Fredl einen Namen gemacht hatte, in die primitivsten Fallen lockte und mir ruckzuck Gewissheit darüber verschaffte, dass die Erde eine Matt-Scheibe ist.

Meine Ausflüge ins Café wurden mit zunehmendem Alter mehr und mehr und führten zu zwei Gewissheiten: Mein Schachspiel
wurde um einige Nuancen besser, meine Schulleistung um Eckhäuser schlechter. Mein tief im Unterbewusstsein sitzendes Credo, von einem Teufelchen erdacht, lautete: Lieber in 50 Minuten eine Partie verlieren, als in 50 Minuten Erkenntnisse über den Aufbau eines Cytoplasmas, die Gesetzmäßigkeiten des Passé composé oder die Auswirkungen der Heisenbergschen Unschärferelation gewinnen. Ein Schulfach namens Karpow mit einem Herrn Fessa Pfleger hätte ich gerne gehabt, stattdessen scheiterte ich an den Tücken der Darstellenden Geometrie und musste die siebente Klasse wiederholen.

Was sich auf gewisse Weise als Glücksfall erweisen sollte. Denn ich landete nach dem Durchfallen in einer Gemeinschaft, in der auch Dimitri seine Matura-Sehnsucht lebte. Und Dimitri war ein grandioser Schachspieler. Mit dem einzigen Problem, dass seine vielen Tipps an uns so tiefgründig waren, dass wir sie nicht im Geringsten verstanden. Egal. Das mit der Schachkarriere war ohnehin kein erklärtes Ziel von mir, aber im Angesicht geistiger Effekte von gut trainierten Strategen fehlte es mir nie an Hingabe.

Dimitri hatte einst in seiner russischen Heimat eine Schachschule besucht, und so verging im Gymnasium in Wien Alsergrund kaum
eine Pause ohne Brett-Exhibition. Dimitri ließ uns bei Simultan-Partien wie Deppen aussehen, demoralisierte uns in Fressschach- Exzessen und schaffte es als Gedächtnisakrobat sogar ohne Blick aufs Brett, die Begegnungen einigermaßen o.en zu halten. Darüber hinaus erzählte er uns von Übungen, die das Hirn fitter machen, von der systematischen russischen Schachphilosophie und von den vielen Raffinessen zwischen Eröffnung und Endspiel.

Was tatsächlich zur Folge hatte, dass sich meine Schwänzer-Ära dem Ende zuneigte. Weil nämlich mein Vorschlag („Was is, Dimitri, Schachmatcherl im Kaffeehaus?“) am sibirischen Eisberg der Disziplin zerschellte. Dafür genügte ein Blick.

Wer vermag daher zu erahnen, wie groß Dimitris Anteil möglicherweise ist, dass ich das Gymnasium am Ende doch noch mit einem Maturazeugnis in der Tasche verlassen sollte. Denn dass ein erfolgreicher Schulabschluss für das weitere Leben keine ganz schlechte Strategie ist, habe ich auch dank seiner Mentalität gelernt. Zumindest einen Zug habe ich damals vorausgedacht. Beinahe großmeisterlich. Was mir beweist: Ein bisserl Karpow tragen wir doch alle in uns.

(Ein Beitrag aus dem Magazin 100 Jahre ÖSB)

WK, Text: Michael Hufnagl, Foto: Christian Jungwirth