Die Bretter, die die Welt bedeuten

Karpow. So hieß er. Anatoli Jewgenjewitsch Karpow. Mit ihm hat alles begonnen. Er galt als Genie und war in den 1960er Jahren bereits als Teenager auf dem Weg zum Schachgroßmeister. Im Alter von 24. Jahren eroberte er nach Siegen über Boris Spasski und Viktor Kortschnoi den WM-Titel und sollte von da an jene Bretter, die die Welt bedeuten, ein Jahrzehnt lang beherrschen. Als überragender Positionsspieler, wie die Experten nicht müde wurden, ihr Staunen zu manifestieren. Und mit solchen Einschätzungen von strategischer Großmacht war freilich auch ein Bub, der immer schon ein Faible für sportliche Superlative besaß, nachhaltig zu beeindrucken.

Ich spielte zu dieser Zeit nicht Schach. Wusste bestenfalls Bescheid über die Regeln, den Wert einzelner Figuren und die faszinierende Idee, Überlegenheit durch die Fähigkeit des Vorausdenkens zu erlangen. Aber ich wagte mich auch niemals über eine Skisprungschanze und dennoch war Toni Innauer ein Idol. Und ich war weit entfernt davon, einen Führerschein zu besitzen, saß aber voller Leidenschaft vor dem Fernseher, um Rallyestar Walter Röhrl bei dessen Husarenritten zu begleiten.

Warum also sollte ich nicht dem Schachzauber erliegen, ohne je eine Dame in Händen gehalten zu haben? Und eines Tages entdeckte ich Karpow. In der Zeitung. In der die Einzigartigkeit des russischen Schachgiganten analytisch herausgearbeitet wurde. Ich las den Artikel mit Sicherheit zwanzig Mal, so sehr zog mich die Beschreibung geistiger Höchstleistung in ihren Bann. Und irgendwann offenbarte mir mein Vater, dass Schach auch im Fernsehen übertragen würde.

Mit dem genialen Teenager Anatoli Karpow hat alles begonnen (Foto: Wikipedia)

Eine nahezu absurde Vorstellung, dass wir allen Ernstes Menschen Zug um Zug beim stundenlangen Brüten beobachten sollten – weniger Action ist kaum denkbar, mochte man meinen. Ein fundamentaler Irrtum. Die Sendung „Schach der Großmeister“ wurde zu Beginn der 80er Jahre ein Live-Spektakel, das der deutsche Großmeister Helmut Pfleger moderierte, und das ich für erheblich spannender erachtete als jeden Tatort oder Derrick. Ich sah Karpow beim Denken und Ziehen zu und ich lauschte voller Begeisterung den Worten des Auskenners, der für mich mit grafisch geschickt arrangierten Strategiemodellen und Überlegungen zu den vielen Möglichkeiten auf dem Weg zum Matt die Abenteuer im Kopf erfassbar machte.

So sehr, dass ich meinen Vater bat, er möge mich das Spiel lehren, bis ich bereit war, ihn zu fordern. Er war kein großer Schachakrobat und ich sollte auch niemals einer werden. Aber das Gefühl, auf Augenhöhe ein Duell des Geistes zu bestreiten, bereitete mir unendlich viel Freude. Zumal ich damals unter dem Zappelphilipp-Syndrom litt und erkannte, dass es lediglich die 32 magischen Figuren waren, die mir zur Ruhe, Konzentration und innerem Wohlbefinden verhalfen.

Daher gab es auch kein Vorüber an der „Schachnovelle“. Bis heute existiert kein Buch, das ich öfter gelesen habe, als jenes Werk von Stefan Zweig, das er im brasilianischen Exil schrieb, und das sich auf so ungewöhnliche Weise den psychischen Abgründen nähert. Das Schachspiel wird erst zum Retter des Verstandes, um selbigen später an die Grenzen zu führen. Und darüber hinaus, bis zur Persönlichkeitsstörung. Mit dem Gedanken, gegen sich selbst spielen und gewinnen zu wollen. Ein meisterlicher Zugang in die schwarz-weiße Seele, die bei mir vor allem einen Eindruck hinterließ: Schach ist ein Dämon, der viel mehr mit uns anzustellen vermag als der vermeintlich simple Code von A2 – C3 oder F4 x H6.

Von da an spielte ich oft und gerne. Allerdings ohne den großen Ehrgeiz mich weiterzuentwickeln. Mir genügten die Partien mit den Freunden, fernab von Elo-Zahlen und Turnierfanatismus. Ich spazierte ins Café, um mir Geografie-Tests, Englischvokabel-Prüfungen und Mathe-Schularbeiten zu ersparen, und pendelte als Müßiggänger zwischen Billardtisch und Schachbrett. Und nur gelegentlich kam es vor, dass ich – von Übermut angestachelt – passionierte Schachspieler um eine Auseinandersetzung bat. Die ich selbstverständlich mit Ansage verlor. Es handelte sich um Untergänge, und zwar ohne wehende Fahnen. Denn mit selbst verordnetem Kampfgeist war am Brett nichts zu kompensieren.

Genau deshalb verlor ich gerne. Ja, ich genoss die Überlegenheit meiner Gegner, weil sie meine Naivität schonungslos offenlegten und mir ansatzweise die Dimensionen des Schach-Universums demonstrierten. Wie gut muss erst ein Karpow sein, dachte ich mir, während mich der Lokalkaiser, der sich als Nemecek Fredl einen Namen gemacht hatte, in die primitivsten Fallen lockte und mir ruckzuck Gewissheit darüber verschaffte, dass die Erde eine Matt-Scheibe ist.

Meine Ausflüge ins Café wurden mit zunehmendem Alter mehr und mehr und führten zu zwei Gewissheiten: Mein Schachspiel
wurde um einige Nuancen besser, meine Schulleistung um Eckhäuser schlechter. Mein tief im Unterbewusstsein sitzendes Credo, von einem Teufelchen erdacht, lautete: Lieber in 50 Minuten eine Partie verlieren, als in 50 Minuten Erkenntnisse über den Aufbau eines Cytoplasmas, die Gesetzmäßigkeiten des Passé composé oder die Auswirkungen der Heisenbergschen Unschärferelation gewinnen. Ein Schulfach namens Karpow mit einem Herrn Fessa Pfleger hätte ich gerne gehabt, stattdessen scheiterte ich an den Tücken der Darstellenden Geometrie und musste die siebente Klasse wiederholen.

Was sich auf gewisse Weise als Glücksfall erweisen sollte. Denn ich landete nach dem Durchfallen in einer Gemeinschaft, in der auch Dimitri seine Matura-Sehnsucht lebte. Und Dimitri war ein grandioser Schachspieler. Mit dem einzigen Problem, dass seine vielen Tipps an uns so tiefgründig waren, dass wir sie nicht im Geringsten verstanden. Egal. Das mit der Schachkarriere war ohnehin kein erklärtes Ziel von mir, aber im Angesicht geistiger Effekte von gut trainierten Strategen fehlte es mir nie an Hingabe.

Dimitri hatte einst in seiner russischen Heimat eine Schachschule besucht, und so verging im Gymnasium in Wien Alsergrund kaum
eine Pause ohne Brett-Exhibition. Dimitri ließ uns bei Simultan-Partien wie Deppen aussehen, demoralisierte uns in Fressschach- Exzessen und schaffte es als Gedächtnisakrobat sogar ohne Blick aufs Brett, die Begegnungen einigermaßen o.en zu halten. Darüber hinaus erzählte er uns von Übungen, die das Hirn fitter machen, von der systematischen russischen Schachphilosophie und von den vielen Raffinessen zwischen Eröffnung und Endspiel.

Was tatsächlich zur Folge hatte, dass sich meine Schwänzer-Ära dem Ende zuneigte. Weil nämlich mein Vorschlag („Was is, Dimitri, Schachmatcherl im Kaffeehaus?“) am sibirischen Eisberg der Disziplin zerschellte. Dafür genügte ein Blick.

Wer vermag daher zu erahnen, wie groß Dimitris Anteil möglicherweise ist, dass ich das Gymnasium am Ende doch noch mit einem Maturazeugnis in der Tasche verlassen sollte. Denn dass ein erfolgreicher Schulabschluss für das weitere Leben keine ganz schlechte Strategie ist, habe ich auch dank seiner Mentalität gelernt. Zumindest einen Zug habe ich damals vorausgedacht. Beinahe großmeisterlich. Was mir beweist: Ein bisserl Karpow tragen wir doch alle in uns.

(Ein Beitrag aus dem Magazin 100 Jahre ÖSB)

WK, Text: Michael Hufnagl, Foto: Christian Jungwirth