Österreich knapp an einer Sensation vorbei

In der 6. Runde schrammen Österreichs Herren in Khanty-Mansiysk nach dem Ruhetag nur knapp an einer Sensation vorbei. Mann des Tages ist Robert Kreisl. Der Leobner besiegt GM Sebastian Feller (2649) und macht das frühe 0:1 durch Neubauer wett. Markus Ragger opfert gegen Vachier-Lagrave (2721) mutig eine Figur, der Franzose kann sich aber durch ein Gegenopfer freikaufen und das Endspiel mit einem Bauern weniger halten. Leider gelingt David Shengelia nicht das gleiche Kunststück und Frankreich siegt doch noch knapp mit 2,5:1,5. Die Damen sollten die Tage vor und nach dem Ruhetag einfach abhaken. Heute setzt es ein ernüchterndes 0,5:3,5 gegen Griechenland. Einzig Tina Kopinits hält remis. Morgen spielen die Herren gegen Italien, die Damen gegen Moldawien. Das Ziel ist klar. Punkte müssen her. An der Spitze sind die Russinnen mit ihrem sechsten Sieg souverän. Offen ist wieder alles bei den Herren, denn Ungarn verliert erstmals gegen die Ukraine und Armenien spielt gegen Georgien "nur" 2:2. Insgesamt 10 Mannschaften halten nun bei 11 oder 10 Teampunkten. In Front sind Ukraine, Armenien und Georgien. Update: Bericht der 6. Runde von Karl-Heinz Schein nebst Auszug eines Interviews von Ali Nihat Yazici. (wk)
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Zwei Niederlagen – eine knapp, eine deutlich

Mannschaftlich lief es - vor allem bei unseren Damen - nicht nach Wunsch, immerhin ein starker Auftritt der Herren und individuelles Glanzlicht lässt die 6. Runde aus österreichischer Sicht nicht gar so trüb erscheinen. Gleich zu den Ereignissen im Männerteam:

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Österreich gegen Frankreich hat eben begonnen... 

Fast wäre die Kalkulation von Trainer Ribli aufgegangen, nur um ein Haar schrammten wir an einer ganz großen Überraschung vorbei. Zum Helden des Tages küren wir Robert Kreisl mit seiner grandiosen Leistung, der diese heutige Partie lange nicht vergessen wird. Sein erster Sieg gegen einen Spieler mit 2650 Elo, herausgespielt mit der Abgeklärtheit eines Klassemanns. Top vorbereitet und voll konzentriert neutralisierte er die Gewinnambitionen seines Gegners. Als dieser im Bestreben, den österreichischen Underdog zu überspielen, seine Stellung überzog, schlug Roberts Stunde. Mit gnadenloser Präzision bestrafte er die unangemessenen Gewinnversuche des Franzosen und hängte sich einen überaus wertvollen Skalp an seinen Gürtel.

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Held ohne Lohn. Sensationeller Sieg von Robert Kreisl, aber keine Matchpunkt...

Markus Ragger spielte auf Brett eins ebenfalls eine ganz hervorragende Partie und brachte den Weltklassemann Vachier-Lagrave mit aktivem, druckvollem Spiel in ernste Schwierigkeiten. Nur mit Müh und Not konnte der 2721 Elopunkte starke Franzose durch sukzessive Materialrückgabe seine Stellung zusammenhalten. Das Remis am Spitzenbrett war ein weiterer Lichtstrahl an einem trüben, sibirischen Herbsttag.

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Markus Ragger läuft gegen 2700-er stets zur Hochform auf

Schade, dass es heute unsere bislang so verlässliche Mittelachse kalt erwischte. Auf Brett drei geriet Martin Neubauer ausgangs der Eröffnung in eine passive Stellung. Wie ein Wirbelwind fegten die schwarzen Figuren über Martins Königsfestung hinweg und hinterließen ein regelrechtes Trümmerfeld. So verliert unser grundsolides drittes Brett nicht häufig. Abhaken und nach vorne schauen!

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Martin Neubauer mit Anflug einer Verkühlung...

Leider musste David Shengelia, genau wie Martin Neubauer, ausgerechnet in dieser Runde seine erste Niederlage im Turnier hinnehmen. Das greifbar nahe scheinende Remis hätte das so verdiente wie gleichermaßen sensationelle 2:2 bedeutet.

„Doch wie spricht weise euer Schein: Heute hat’s nicht sollen sein!“

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David Shengelia, rechts Coach Zoltan Ribli

Fazit:

Der Eindruck nach dieser Begegnung ist zweischneidig: Gegen die Nummer 10 des Turniers so mitspielen zu können, ist die positive Seite der Medaille. Dass es ganz knapp nicht zur Sensation gereicht hat, hinterlässt einen etwas bitteren Nachgeschmack. Morgen wartet mit Italien , angeführt vom 2700-er Fabiano Caruna, ein weiterer dicker Brocken.

 

Zu den Damen

Zum ersten Mal öffnete der Himmel über Khanty Mansiysk seine Schleusen, es regnete in Strömen. Und dieses trübe Wetter war nicht ganz unpassend zum heutigen Ergebnis. Das „Werkl“ lief eigentlich ganz rund an, an allen Brettern konnte man mit der Eröffnung zufrieden sein, doch irgendwie kam so ungewollt wie unverhofft Sand ins Getriebe. Freilich war Griechenland - an jedem Brett mit Elovorteil - zu favorisieren.

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Österreichs Team angeführt von Eva Moser im Kampg gegen die Griechinnen

Veronika Exler geriet in einer spanischen Abtauschvariante unversehens in eine passive Stellung, aus der sie sich trotz aller Bemühungen, die Position wasserdicht abzuschotten, nicht mehr herauswinden konnte. Auch Eva Moser gelang es am Spitzenbrett nicht, ihre durchaus erfolgversprechende Stellung in Konkretes umzusetzen. Unkonventionelle Manöver beider Spielerinnen prägten das Mittelspiel, doch in Zeitnot verlor unser Spitzenbrett zuerst den Faden, dann eine Figur und damit die Partie.

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Veronika Exler

In der Zwischenzeit hatte sich Katharina Newrlka auf Brett 4 ein unangenehmes Duo aufgebürdet: Zeitnot und schlechte Stellung. Ersteres konnte sie wiederum mit knapper Not überstehen, die schlechte Stellung wurde sie aber nicht los. Man muss Katharina zugute halten, dass sie wie eine Löwin kämpfte, ihrer Gegnerin die technische Verwertung des Vorteils maximal erschwerte und ihr immer wieder Steine in den Weg rollte. Wie gerne hätte ich ihren tollen Kampfgeist belohnt gesehen!

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Moser, Kopinits, Exler und Newrkla. Präsident Jungwirth als Zuseher

Tina Kopinits war in dieser Runde der Lichtblick im Team. Sie spielte eine ausgezeichnete Partie und konnte, als unsere Mannschaftsniederlage endgültig besiegelt war, in minimal besserer Stellung das Remisangebot ihrer Gegnerin annehmen.

Fazit:

Um die Fußballsprache als Vergleich zu bemühen: Die erste Halbzeit ist vorbei, wir laufen einem Rückstand hinterher. Doch in der Kabine (=in der gestrigen Mannschaftssitzung am Abend) nahmen wir uns vor, in der zweiten Hälfte nicht nur den Ausgleich zu erzielen, sondern…. Noch sind 45 Minuten zu spielen, und der Ball ist rund!

Also bitte zuhause vor den Bildschirmen, Daumen drücken ab 15.00 Uhr Ortszeit (11:00 in Österreich), wenn es zum siebten Mal heißt: „Lang lebe der rotweißrote König!“

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Mr. Chess-Results Heinz Herzog in der Turnierhalle im Gespräch vertieft...

Natürlich spielten sich auch abseits unserer Bretter größere und kleinere Geschichtchen ab. Unglaublich, zu welcher Eröffnung die Nummer 1 der Welt, Magnus Carlsen, gegen den Engländer Michael Adams griff. Auch das norwegische Genie  kann offenbar die in Stein gemeißelten Gesetze der Schachlogik nicht umschrieben und musste seine bereits zweite Niederlage in diesem Turnier hinnehmen.

Faszinierend bleibt weiterhin das Spiel von Vassily Ivanchuk, Mit dem Sieg gegen Peter Leko hält er bei 5 Punkten aus 5 Partien.

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Adams gegen Carlsen


Im Pressezentrum gab Ali Nihat Yazici, der rührige türkische Kandidat für die ECU-Wahl ein interessantes Interview. Einige bemerkenswerte Passagen daraus möchte ich euch nicht vorenthalten:

Reporter:

„Jedem ist bekannt, dass sich Schach in der Türkei in rasantem Tempo entwickelt. Können Sie uns einige Zahlen nennen?

Ali Nihat Yazici

Natürlich. In den letzten 5 Jahren haben 2,25 Millionen Kinder in den Grundschulen Schach gelernt. Wir haben ungefähr 200.000 Mitglieder im türkischen Schachverband und 50.000 Trainer. Das Budget des türkischen Schachverbandes betrug 2009 6,5 Millionen Euro, Sponsoren brachten  letztes Jahr mehr als eine Million Euro. Diese Zahlen wollen wir in den nächsten 2-3 Jahren verdoppeln.

Reporter:

 

Hat das auch einen Einfluss auf die Nationalmannschaft?

Ali Nihat Yazici

Ja. Wie sie sehen, habe ich zur Pressekonferenz zwei junge Mitglieder der Herrenmannschaft mitgebracht. Die beiden wissen wahrscheinlich gar nicht, wie stolz ich auf sie bin! Bislang setzten wir uns keine superambitionierter Ziele, wir wollen lediglich in die Top 20 vorstoßen. Aber schauen wir noch zwei Jahre in die Zukunft, dann wird unser Team mit den führenden Schachnationen mitspielen. Noch vor wenigen Jahren hatten wir einen einzigen internationalen Meister, er ist mittlerweile 85 Jahre alt… Heute haben wir viele junge Großmeister und jährlich werden es mehr.

Reporter:

Warum spielt Mikhail Gurevich, der seit einigen Jahren für die Türkei antritt, nicht bei der Olympiade mit?

Ali Nihat Yazici

Der Grund ist, dass alle Mitglieder der Mannschaft unter 30 Jahre alt sein sollen. Dass ist eine Sache des Prinzips. Wir wollen dieses Alter in den nächsten Jahren noch herabsetzen.

Reporter:

 

Das heißt, ein Topalov oder ein Kramnik hätten keinen Platz in ihrer Mannschaft?

Ali Nihat Yazici

Richtig. Solange ich Präsident des türkischen Schachverbandes bin, wird es keinen Spieler über 30 in der Mannschaft geben. Und ich kann Ihnen versichern, dass wir sehr bald unsere eigenen jungen Topalovs und Kramniks haben werden.

 

Mit diesen visionären Vorstellungen als Denkanstoß verbleibt

Karl-Heinz Schein